Begegung mit Holocaust-Ueberlebenden

Holocaust-Opfer erzählen

Zwei Holocaust-Überlebende aus Rumänien weilten für eine Woche in der Schweiz und trafen sich hier mit Jugendlichen, um Geschichte aus erster Hand zu vermitteln.

Die beiden älteren Herren fallen nicht auf, wenn sie durch die Stadt Zürich spazieren: der 67jährige Ladislaus Grün, der sich als ehemaliger Turnlehrer für Sport interessiert und vor jedem Fahrradgeschäft fachmännisch die Auslagen bewundert, und sein Begleiter, Carol Margulies. Dieser ist mit 76 Jahren fast zehn Jahre älter und wirkt ein wenig fragil. Wenn der kleine Mann mit seinen listigen Äuglein einer Gesprächspartnerin zur Begrüssung die Hand küsst, erscheint er schon fast wie ein Botschafter aus einer anderen, vergangenen Zeit.

Es ist für beide ungewohnt, von ihren schrecklichen Erinnerungen zu erzählen: «Nach dem Krieg wollte ich nie mehr darüber reden, alles vergessen. Aber heute gibt es Leute, die sagen, der Holocaust habe gar nicht stattgefunden. Dagegen muss man ankämpfen», erklären die zwei immer wieder. Die beiden Männer aus Rumänien sind nicht allein in der Schweiz: Sie werden von Gabor Hirsch begleitet, der gleich alt ist wie Ladislaus Grün.

Gabor Hirsch kam 1956 als Ungarnflüchtling in die Schweiz und steht der Schweizer Kontaktstelle für die Überlebenden des Holocaust vor. Auch er ist Jude und war zur gleichen Zeit wie Ladislaus Grün in Auschwitz. Die beiden sind sich noch nie begegnet. Aber sie finden heraus, dass Martha Marmor, die Schwester von Grün, nach der Befreiung von Auschwitz zusammen mit Hirsch in der Nähe von Minsk war.

Vor dem Holocaust

Eine der Begegnungen findet an der Kantonsschule Zürich Oberland in Wetzikon statt. Der Mittelschullehrer Walter Jacob hat drei seiner Abschlussklassen im Singsaal versammelt.

Die Referenten sprechen nicht nur über den Holocaust, sondern auch über die Zeit davor. Was Carol Margulies über Tschernowitz, die Hauptstadt der Bukowina, erzählt, überrascht viele. Hier lebten die Angehörigen verschiedener Kulturen: Rumänen, Ukrainer, deutschstämmige Sachsen; dazu Menschen aus Völkern, deren Namen hierzulande kaum geläufig sind, wie die Huzulen und Ruthenen. 40 Prozent der Bevölkerung war jüdisch. Weil alle Bäcker der Stadt jüdisch waren, gab es an den Tagen des Pessachfestes im Frühjahr für die ganze Stadt nur ungesäuertes Brot zu essen. Keiner nahm daran Anstoss.

1941 wurden die Juden von Tschernowitz nach Transnistrien, das in der heutigen Ukraine liegt, deportiert. Carol Margulies, damals ein junger Mann, und seine Familie lebten an verschiedenen Orten: manchmal in halbzerstörten Häusern, manchmal in Behelfsunterkünften in Lagern. Anders als

Auschwitz waren diese Lager keine Vernichtungslager. Trotzdem starb die Hälfte der deportierten Bevölkerung: «Die Menschen verhungerten ganz einfach oder starben an Typhus oder anderen Krankheiten», erzählt Carol Margulies.

Ladislaus Grün stammt aus Reghin in Siebenbürgen. Die Schikanen gegenüber der jüdischen Bevölkerung begannen 1941: «Zuerst wurden pro Klasse nur noch vier Juden zugelassen, schon bald danach gar keine mehr.» Auf den Märkten durfte die jüdische Bevölkerung erst nach zwölf Uhr einkaufen, wenn es kaum mehr etwas gab. Auch das Schwimmbad am Muresfluss wurde für Juden gesperrt. Der 67jährige Grün erinnert sich auch an ein Schild beim Arzt: «Hunde und Juden werden nicht behandelt.»

Es braucht jeweils nur eine kleine Frage, um den Erzählfluss der drei Männer aufrechtzuerhalten. Im Schulzimmer ist es mäuschenstill, kein Rascheln oder Flüstern ist hörbar. Die Schüler hören gebannt zu.

Ladislaus Grün erzählt, wie er und seine Familie im Mai 1944 nach Auschwitz gebracht wurden. Dies geschah in einem Moment, als der Krieg für Deutschland verloren war und die Alliierten in der Normandie gelandet waren. Aber die Vernichtung der Juden ging weiter. Ladislaus Grün und auch Gabor Hirsch erlebten in Auschwitz die berüchtigten Selektionen des Naziarztes Mengele. Er entschied darüber, wer arbeiten durfte und wer in die Gaskammer geschickt wurde.

Immer wieder Selektionen

Gabor Hirsch weist darauf hin, dass sich diese Selektionen wiederholten. Er erinnert sich, wie Mengele in der Baracke der Jugendlichen auftauchte, eine Messlatte aufstellte, um die Kleinen und Schwachen zu finden und in die Gaskammern zu schicken. Auch Hirsch gehörte zu dieser Gruppe. Er überlebte dank einer weiteren Nachselektion, wonach man ihn für arbeitsfähig hielt.

Die Erzählung der drei Männer überrascht immer wieder mit Geschichten, die vielen geläufigen Klischees widersprechen. Nicht alle Aufseher waren Monster: Ladislaus Grün, der das Ende des Krieges im Konzentrationslager von Dachau erlebte, berichtet von einem Aufseher, der sie immer wieder mit Semmeln versorgt hatte. Wäre der Wärter dabei erwischt worden, hätte ihm die Erschiessung gedroht.

Nach dem Krieg sammelten die Überlebenden Unterschriften, um ihn vor einer Strafe zu bewahren. Er kam dennoch für zwei Jahre ins Gefängnis. Der letzte Teil der Veranstaltungen bleibt immer für Fragen reserviert. Hier wird klar, wie stark die Erzählungen der drei alten Menschen das Publikum bewegten. Einige Beispiele: «Wie konnte man überhaupt wissen, dass Sie Jude waren?» - «Es gab Einwohnerregister; hätten wir den Befehlen keine Folge geleistet, so hätten dies die Nachbarn gemeldet», sagt Carol Margulies.

Der Vater war wichtig

«Was hat ihnen die Kraft gegeben zu überleben?» - Ladislaus Grün: «Es war die Tatsache, dass ich mit meinem Vater zusammen war. Das war für beide entscheidend. Ich wollte wegen ihm überleben und er wegen mir. Mein Vater hat mich als Kind nie geschlagen. Aber im Lager hat er das getan, als ich mich nicht mit Schnee waschen wollte. Das Waschen war entscheidend, wer überleben wollte, musste sich abhärten.» Ein Schüler fragt nach der Stimmung im Lager. Gabor Hirsch: «Unter den Gefangenen herrschte der totale Egoismus. Jeder konnte nur noch ans eigene Überleben denken und hätte für ein Stück Brot alles getan.»

Was nehmen die Schüler von diesen Begegnungen mit? - Der 19jährige Stephan Rathgeb sagt, die Begegnung bedrücke ihn einfach: «Es ist so lange her, ich weiss nicht, was ich damit nun tun soll.» Die 20jährige Franziska Koch: «Ich habe schon viel vom Holocaust gehört. Aber es ist etwas anderes, diesen Menschen auch in Wirklichkeit zu begegnen.» Die gleichaltrige Corinne Maurer pflichtet ihr bei: «Diese Begegnung ist viel direkter und eindrücklicher als das, was wir sonst im Geschichtsunterricht erleben.»

Dominik Landwehr

Brückenbauer Nr. 45, 5.11.97

Lesen Sie auch:

Grosse Hilfsbereitschaft - "Brückenbauer"-Artikel gab Idee für Synagogen-Renovation in Tirgu Mures

Öffentliche Veranstaltung vom 27.Oktober 1997 - Einführung von Heinz Altorfer (Migros-Zeitfragen)

NZZ Artikel vom 29.10.97 zur Veranstaltung vom 27.Oktober


Weitere Informationen

Die letzten 100 Meter - Holocaust-Opfer in Rumänien ("Brückenbauer" vom 29.Juni 1997)

Links zum Thema Rumänien

Links zum Thema "Schweiz + Holocaust"

Lesetips zum Thema Rumänien


Briefe - Links
Frontpage mit Frames/ ohneFrames/ - English Page - Minderheiten - IKRK- Rumänien - , USA, Vietnam, - Eritrea - Böhmen - Multimedia&Co;.- Postkarten - Quotes - Books - Personal  


updated last on November 11, 1997