Das IKRK
Vom Familienbetrieb zum Grossunternehmen

Von Domink Landwehr


Stichworte

Die Adresse ist symbolisch, die Umgebung international: Das Hauptquartier des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz liegt an der Avenue de la Paix 19, mitten im Genfer UNO-Quartier. Die Nachbarn: Der Völkerbundpalast mit dem heutigen UNO-Hauptquartier, die Internationale Arbeitsorganisation ILO und hinter dicken Mauern mit Stacheldraht die Botschaft der russischen Föderation. Wer von der Strasse aus das alte Haus mit der Rotkreuzfahne sieht, vermutet hier kaum eine grosse Organisation. Dieses Haus war einst das vornehme Hotel Carlton, später ein Mädchenpensionat für die 'jeunes filles' aus der deutschen Schweiz.

Man betritt das Haus durch die ehemalige Hotelhalle - eine Fotoausstellung zeigt Bilder aus IKRK-Aktionen im ehemaligen Jugoslawien. Halle und Eingang wurden kürzlich renoviert - aber immer noch wirkt hier alles bescheiden, vielleicht sogar etwas verschlafen. Eine breite Treppe führt in die ehemalige Beletage mit dem ´Grand Salon', der auch heute noch Empfängen und offiziellen Anlässen dient. Das Parkett quietscht unter den Füssen. Hier hängen die vier Nobelpreisurkunden, die das IKRK in seiner Geschichte erhalten hat.

Doch der erste Eindruck trügt. Denn dieses Haus beherbergt nur noch einen kleinen Teil der Angestellten des IKRK-Hauptsitzes unter ihnen Präsident und Direktion. Hinter dem ehemaligen Hotel sind neue, zweckmässige Bürogebäude entstanden. Trotz der Neubauten scheint alles aus den Nähten zu platzen. Büroräume sind Mangelware und buchstäblich jede Besenkammer ist belegt. -

Wachstum

Das war nicht immer so: Noch vor 25 Jahren war das IKRK eine verhältnismässig kleine Organisation: 234 Personen arbeiteten am Hauptsitz, im Feld waren es gerade 65. Seither hat sich die Zahl der Mitarbeiter in Genf auf 664 verdreifacht, die Zahl der Feldmitarbeiter ist explodiert; heute sind über l000 Delegierte für das IKRK im Feld, dazu kommen noch fast 4000 vor Ort rekrutierte Kräfte. Das Wachstum und die damit verbundene Raumknappheit sind denn auch nichts Neues für die Männer und Frauen am Hauptsitz, welche die Aufgaben des IKRK in über 60 Ländern planen, koordinieren und überwachen. Eine Arbeit, für die 1994 fast eine Milliarde Franken budgetiert war.

Seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich das Wachstum des IKRK beschleunigt: wohl blieb die Zahl der Mitarbeiter in Genf praktisch konstant: die Anzahl der Feldmitarbeiter hat sich aber verdoppelt, die Ausgaben haben sich gar verdreifacht. Damit hatte in Genf niemand gerechnet. Mehr noch: Das neue Wachstum hat viele Kaderleute auch beunruhigt. Das grosse IKRK-Schiff wird immer schwerer zum Steuern. Aber das ist nur eines. Es gilt auf der anderen Seite auch die Mittel für die gewachsenen Aufgaben zu finden und dies ausgerechnet in einer Zeit, in der die westlichen Industrienationen von der grössten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit heimgesucht werden. Gibt es, so fragt man sich in Genf, eine Kapazitätsgrenze?

Vielfältige Gründe

Gründe für dieses Wachstum sind vielfältig. Wohl hat das Ende des Kalten Krieges eine Vielzahl von neuen Konflikten ausgelöst - auf dem Balkan, in der ehemaligen Sowjetunion, auch der Konflikt in Somalia ist ein Beispiel. dafür. Das Wachstum des IKRK hat aber schon anfangs der 70er Jahre begonnen: Das IKRK hatte eben seine erste grossen Hilfsaktion in Biafra hinter sich. Jean-Pierre Hocké, der nachmalige UNO-Hochkomissar für Flüchtlinge war in den Jahren 1973-81 Direktor der Operationen und er hat dem IKRK eine völlig neue Dynamik verpasst, glaubt ein IKRK-Kadermann. Während dieser Zeit hat sich die Organisation stark entwickelt. Zu den traditionellen Aufgaben - allen voran den Besuchen von Kriegs- und Sicherheitsgefangenen - kamen nun auch grosse Hilfsoperationen: Nahrungsmittelhilfe im grossen Stil oder medizinische Hilfe. Dass sich das IKRK etwa auf dem Gebiet der Kriegschirurgie engagiert und vielerorts orthopädische Ateliers aufgebaut hat, ist ein neueres Phänomen. Beide, Kriegschirurgie und Orthopädie wurden während des Afghanistankonflikts weiterentwickelt. In jüngere Zeit hat das IKRK auch Saatgutaktionen lanciert - beispielsweise in Angola - oder Projekte in der Trinkwasserversorgung von Krisengebieten an die Hand genommen. Nach dem Golfkrieg beispielsweise hat das IKRK in Bagdad mitgeholfen, die zerstörte Trinkwasserversorgung wiederaufzubauen.

Top-Manager gesucht

Das gesteigerte Wachstum der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges rief nach einem Top-Manager und einen solchen fand man in den eigenen Reihen, in der Person des Arztes Peter Fuchs. Er ist kein altgedienter IKRK-Mann und arbeitet erst seit 1983 für die Organisation. Zuvor war Fuchs Oberarzt am Universitätsspital in Zürich. Für das IKRK war er in zahlreichen Delegationen tätig, war stellvertretender Direktor der Operationen und leitete 1990 den Krisenstab "Golfkrieg" und den Stab "Jugoslawien". Im Mai 1992 wählte ihn das Komitee zum neuen Generaldirektor.

Sein Büro liegt in einem Eckzimmer im ersten Stock des alten Hauptgebäudes. Das Mobiliar besteht aus einfachen Warenhausmöbeln. Einziger Luxus: Die Aussicht aus den beiden Fenstern auf den Lac Léman und Genf. Der Kaffee, den uns Peter Fuchs anbietet, stammt aus der Espressomaschine im Büro, die der Generaldirektor selber bedient. Das ist sein Stil: unkompliziert und direkt. Fuchs ist kein Diplomat, mehr schon ein Macher.

Der Generaldirektor ist nicht der höchste Mann im IKRK - schon eher ein 'primus inter pares', der am Hauptsitz für die administrativen Angelegenheiten zuständig ist. Zwei weitere Direktoren stehen neben ihm: Jean de Courten, Direktor der Operationen und Yves Sandoz, zuständig für völkerrechtliche Angelegenheiten. Wichtige Entscheide fallen aber im Exekutivrat, dem neben dem Präsidenten alle Direktoren sowie drei Mitglieder des Komitees angehören. Der Exekutivrat trifft sich wöchentlich. Hierarchisch über dem Exekutivrat steht das Komitee. Es besteht aus 15-25 Schweizern, man trifft sich einmal im Monat und bestimmt die generelle Politik und die Strategien des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Das Komitee ist auch für die Wahl der höchsten Kaderleute zuständig.

Vor seiner Wahl zum Generaldirektor legte Peter Fuchs dem Komitee dar, wie er drei Kernbereiche der Organisation in Zukunft gestalten wollte: Es ging dabei um die Finanzen, das Personal und die Information der Genfer Institution. Das sind alles Schlüsselbereiche des Wachstums.

Ein Konzept für die Riesenfinanzen

Zunächst die Finanzen: 949 Millionen Franken hat das IKRK für 1994 budgetiert - die effektiv ausgegebene Summe dürfte leicht darunter liegen. Nicht alles, was geplant ist, lässt sich auch verwirklichen. Die Realisationsquote liegt etwa bei 80 Prozent.

Um auf kurzfristige Bedürfnisse reagieren zu können unterhält die Genfer IKRK-Zentrale einen Fonds mit rund 65 Millionen Franken, der schnelles Handeln ermöglicht. Das Geld liegt nicht auf einem Sparkonto: "Wir betreiben ein aktives Cash-Management", erklärt dazu IKRK-Finanzchef Hansjörg Eberle. Oberstes Ziel ist die sofortige Verfügbarkeit des Geldes. Währungsschwankungen werden mit Instrumenten des Geldmarktes abgefedert ('zero cost options'). Das ist kein Luxus, denn ein grosser Teil der IKRK-Einkünfte stammt aus Fremdwährungen. Welche Banken betreuen die IKRK-Gelder? - Hier gibt man sich zugeknöpft. Peter Fuchs verrät immerhin soviel: "Wir arbeiten mit mehreren Schweizer Banken zusammen".

Bei der mittelfristigen Planung hilft ein neugeschaffenes Management-Informationssystem: Ein 25-seitiges Papier, das jeden Monat neu erstellt wird und alle wichtigen Informationen aus dem Finanzbereich vereinigt. "Ein dynamisches Instrument", erklärt Finanzchef Eberle. Es erfasst die gesamte Finanzsituation der Organisation und versucht in die Zukunft zu schauen. Das gilt für die Ausgaben, aber auch für die Einnahmenseite. Bei den Einkünften beispielsweise wird nach drei Kategorien unterschieden: Eingegangene Zahlungen, versprochene Beträge und 'Potential'. Damit sind Zahlungen gemeint, welche die Regierungen allenfalls noch bereit wären, zu leisten. Eberle:"Diese Informationen waren immer schon vorhanden, aber sie wurden nicht in dieser Art zentralisiert."

Die Geldgeber haben die Möglichkeit zu bestimmen, für welche Aktionen ihr Geld verwendet werden soll - man spricht dabei vom 'earmarking'. Für einige Aktionen fliessen die Gelder dabei reichlicher als für andere. Die Prioritäten der Geberstaaten sind nicht unbedingt die Prioritäten des IKRK. Es gibt viele Aktionen, die chronisch von Geldknappheit bedroht sind: dazu gehören zur Zeit beispielsweise Afghanistan, Angola und der Sudan. Hier versucht das IKRK zunächst intern Mittel umzulagern. Funktioniert das nicht, wird bei den Geberländern speziell um Mittel für diese Aktionen nachgesucht.

Personalpolitik: Zwischenbilanz mit 40

Das Wachstum zeitigt auch seine Wirkungen in der Personalpolitik: Noch vor 20 oder 30 Jahren stammte ein Grossteil der IKRK-Mitarbeiter aus alteingesessenen Genfer Familien. Angestellt wurde man meist nur für einige Monate. Man wies in Genf immer auf das "risque de paix" hin, das langfristigen Anstellungen im Wege stand, erinnert sich ein langjähriger Delegierter. Die Hoffnung auf eine friedlichere Welt, die vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg genährt wurde, erwies sich als trügerisch. Die Anzahl der IKRK-Mitarbeiter hat seither konstant zugenommen. Um den heutigen Bestand von über l000 Felddelegierten zu erhalten, müssen jährlich 150-250 neue Leute eingestellt werden. Das ist für das IKRK trotz Rezession nicht einfach. Einsätze in Krisengebieten wie im ehemaligen Jugoslawien oder in Ruanda sind nicht immer ungefährlich, zudem birgt ein mehrjähriger Einsatz im Ausland immer die Gefahr der Entfremdung. Zuviele jüngere Delegierte verlassen die Organisation heute schon nach zwei bis drei Jahren. Nicht wenige fühlten sich bereits nach dieser Zeit ausgebrannt. IKRK Delegierte sind mit einer neuen, nie dagewesenen Brutalität und der Missachtung von sämtlichen humanitären Normen konfrontiert: Aus Ruanda berichten IKRK-Delegierte, dass Soldaten verletzte Feinde aus IKRK-Ambulanzen herauszerrten und auf der Stelle erschossen. - Das Humanitäre Völkerrecht wird noch weniger respektiert als früher, meinen ältere IKRK-Mitarbeiter.

IKRK-Generaldirektor Peter Fuchs will der schleichenden Erosion im Personal mit einer neuen Personalpolitik und einer sorgfältigen Karriereplanung begegnen. Eine Laufbahn beim IKRK verläuft heute in drei Phasen: sie beginnt mit einem ersten Abschnitt, der zwei bis drei Jahre dauert. Nach dieser Phase des gegenseitigen Kennenlernens ist ein Uebertritt in die Schweizer Berufswelt in der Regel unproblematisch. Rund 50 Prozent der Mitarbeiter verlassen die Organisation nach dieser Zeit. In einer zweiten Phase, die rund zehn Jahre dauert, übernimmt der Mitarbeiter erste Kaderfunktionen. Während dieser Zeit zahlt das IKRK regelmässig auf ein Sperrkonto - dort liegen nach zehn Jahren rund zehn Monatslöhne. "Zukunftskapital" nennt man dies in Genf. Damit will man den Uebertritt der Mitarbeiter nach diesem Abschnitt erleichtern. Nach dieser zweiten Phase soll nur noch beim IKRK bleiben, wer eine Funktion in der oberen Führungsebene der Organisation übernehmen kann. Anders als auf dem Feld soll die Anzahl der Stellen am Genfer Hauptsitz nicht mehr wachsen. Das bedeutet, dass ein IKRK-Mitarbeiter auch nach jahrelangem Einsatz nicht damit rechnen kann, am Hauptsitz weiterbeschäftigt zu werden. Es ist aber nicht jedermanns Sache, ständig in Krisengebieten zu arbeiten und dort auch zu leben. So bleibt vielen nichts anderes übrig, als die Organisation zu verlassen. Ein spezialisiertes Outplacement-Unternehmen hilft dabei, und seit kurzem hat man in Genf auch Kontakte mit anderen, international arbeitenden Unternehmen in der Schweiz aufgenommen. Ziel ist die Einrichtung einer Stellenbörse. Fuchs:"Fähigkeiten und Erfahrungen unserer Mitarbeiter werden heute auf dem Schweizer Arbeitsmarkt noch unterschätzt".

Wer in dieser dritten Phase noch bleibt, soll nicht bis zum Pensionierungsalter arbeiten: Nach der neuen Personalpolitik kann ein IKRK-Mitarbeiter ab dem 57. Altersjahr pensioniert werden. Als Pensionierter kann er aber dann noch im Mandatsverhältnis für die Organisation weiterarbeiten. Damit soll sichergestellt werden, dass Know-How und Erfahrung nicht verlorengehen.

Die neue Personalpolitik trägt bereits erste Früchte: Lange Zeit war es für das IKRK schwierig, die mittleren Kaderstellen zu besetzen. Der Engpass scheint heute weitgehend überwunden zu sein.

Lange Zeit waren im IKRK Westschweizer in der Mehrheit - auch das ändert sich langsam: Immer mehr finden auch Deutschschweizer den Weg zum IKRK. Man will ganz gezielt junge Menschen aus der Deutschschweiz ansprechen und hat dieses Anliegen im vergangenen Sommer (1994) auch an die Presse getragen. Schlechte Französischkenntnisse sind heute kaum mehr ein Hindernis: Lingua franca ist heute ohnehin das Englische. Rund die Hälfte der IKRK-Feldmitarbeiter sind Deutschschweizer:"Es dürften ruhig noch etwas mehr sein", meint Peter Fuchs.

Agressive und offene Informationspolitik

Der dritte Punkt in der Reorganisation am IKRK-Hauptsitz betrifft die Informationspolitik. Gegenüber Journalisten war man in der Vergangenheit zurückhaltend. Mit dem Hinweis auf die Interessen der Opfer und den Vereinbarungen mit den kriegsführenden Parteien verbat man sich ausführliche Informationen. Die Mitarbeiter belegte man mit einer Schweigepflicht, die weit über das übliche Mass hinausging. Auf Verstösse dagegen reagierte man in Genf nicht immer sehr geschickt: als 1982 der ehemalige IKRK-Delegierte Dres Balmer ein Buch über seine Erfahrungen in El Salvador schrieb, liess das IKRK die Publikation kurzerhand verbieten. Die Aktion stiess bei der Schweizer Oeffentlichkeit auf wenig Verständnis. Affäre und Gehässigkeiten sind heute vergessen, Balmers Buch ist wieder zu kaufen. Und in der Informationspolitik weht ein neuer Wind. Dazu gehört etwa, dass man eine deutlichere Sprache spricht als in der Vergangenheit und Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht beim Namen nennt. Formulierungen wie "Israel soll sofort aufhören, seine Gefangenen schlecht zu behandeln" sind heute durchaus möglich. Man braucht kein Diplomat zu sein, um diese Formulierung zu interpretieren.

Der Grund für diese Kurskorrektur ist einfach: "Auch Staatschefs erfahren heute von neuen Konflikten aus den Medien", meint Peter Fuchs. Ganz spezielle Aufmerksamkeit widmet man in Genf nun dem Fernsehen und hat darum seit kurzem einen Koordinator für die Bedürfnisse der Fernsehanstalten angestellt.

Immer wieder versucht das IKRK in Genf an vergessene Konflikte zu erinnern: So schickte man beispielsweise ein Kamerateam nach Afghanistan und überliess das gesamte gedrehte Material einer internationalen Bildagentur. Das Resultat: über 60 Beiträge in den Nachrichtensendungen in aller Welt; Afghanistan war wieder in den Schlagzeilen.

Letztlich gelten aber auch für das IKRK und seine moralisch hochstehenden Ziele die Gesetze der Massenmedien und Information ist eine kurzlebige Ware. Auch eine bestens geölte Public Relations Maschine hat ihre Grenzen, wie gerade das Beispiel des Afghanistankonfliktes erkennen lässt: Kaum waren die Fernsehbeiträge mit dem IKRK-Material ausgestrahlt, wurde dieser Konflikt wieder von anderen Aktualitäten in den Hintergrund gedrängt. In Afghanistan wird aber auch jetzt noch gekämpft - nur spricht niemand mehr vom Elend der Bevölkerung des kleinen Berglandes am Hindukusch.

Das IKRK stellt sich heute als dynamisches Unternehmen dar. Man will der Welt zeigen, dass man das Wachstum im Griff hat. Das Wachstum hat jedoch Grenzen, denn die finanziellen Möglichkeiten der Geberländer sind beschränkt. Das sagt ein Diplomat der ständigen Mission der Vereinigten Staaten - dem grössten Geberland des IKRK - und auch ein Vertreter des Eidgenössischen Departementes für auswärtige Angelegenheiten kommt zum gleichen Schluss.

Noch vor einigen Jahren gab es innerhalb und ausserhalb der Organisation Leute, die sich für eine Beschränkung auf die traditionellen Bereiche der IKRK-Arbeit stark machten: auf die Gefangenenbesuche, auf die Aktivitäten des Suchdienstes, auf die Weiterentwicklung und Verbreitung des humanitären Völkerrechtes. Im Gespräch weist Peter Fuchs darauf hin, dass diese Diskussion abgeschlossen sei und auch Kritiker heute vom Sinn grosser und teurer Aktionen überzeugt sind. Nahrungsmittelhilfe beispielsweise ebnet in vielen Fällen den Zugang zu den Opfern und macht jene Aktivitäten erst möglich, die das IKRK als seine Kernaktivitäten betrachtet. Fuchs kritisiert denn auch die Arbeitsteilung zwischen der UNO und dem IKRK im ehemaligen Jugoslawien, wo die Versorgung von belagerten Gebieten ganz in den Händen der UNO liegt:"Weil die UNO eine stark politisierte Organisation ist, erhalten grosse Teile der Bevölkerung im ehemaligen Jugoslawien keine Hilfe von aussen". Die UNO wird dort als klar anti-serbisch wahrgenommen. Demgegenüber kann das IKRK seine Neutralität immer wieder beweisen und wird deshalb von allen Konfliktparteien viel besser respektiert.

Wie weiter? - Am IKRK-Hauptsitz gibt man sich heute gelassen:"Die Wachstumsphase scheint vorläufig abgeschlossen zu sein, wir gehen von einer Konsolidierung in den nächsten Jahren aus," meint Generaldirektor Fuchs.

Rotkeuz-Föderation: Nicht immer eitel Mitte mit dem IKRK

Wer in Genf mit dem Taxi zum IKRK fährt und den Chauffeur salopp bittet zum Croix-Rouge gebracht zu werden, der kann leicht eine Ueberraschung erleben. Mit etwas Pech landet er nämlich nicht beim IKRK-Hauptsitz an der Avenue de la Paix, sondern am Chemin des Crêts, bei der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften. Ist das nun die Konkurrenzorganisation zum IKRK? - Ein Blick in die Geschichte klärt die Frage.

163 nationale Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften gibt es heute, und auch sie gehen auf Henri Dunant zurück. Zu diesen nationalen Gesellschaften gehört auch das Schweizerische Rote Kreuz, das bereits 1866 gegründet wurde. Diese Organisationen sollten die Staaten beim Aufbau von Sanitätsdiensten beraten, bald kamen noch andere Aufgaben, etwa in der Katastrophen- und Nothilfe und im Gesundheitswesen dazu. Zusammen gründeten sie 1919 die Liga, die heutige Föderation, als ihren Dachverband. Anders als das IKRK wollten sie nämlich auch in Friedenszeiten aktiv sein. Damit erhielt das IKRK einen Mitspieler auf dem internationalen Parkett. Heute gibt es in der Rotkreuzbewegung einen Dualismus. Einen Aussenstehenden mag es denn auch nicht erstaunen, dass der amtierende Präsident der Föderation, der Venezuelaner Mario Villaroel im Mai 1994 vorschlug, Föderation und IKRK in einer Organisation zusammenzufassen. Mit seinem Vorschlag wirbelte er etlichen Staub auf. Dem IKRK nahestehende Kreise werten den Vorschlag als nackte Provokation und vermuten reine Machtinteressen dahinter. Denn die beiden Organisationen unterscheiden sich in einem wichtigen Punkt: in der Neutralität. Das IKRK ist neutral, die Föderation ist es nicht, kann es nicht sein, denn ihre Mitglieder sind es häufig nicht. Eine Diktatur wird eine neutrale Rotkreuzgesellschaft nie dulden. Die Frau des Serbenführers Karadzic beispielsweise tritt als Präsidentin der Rotkreuzsektion in der Serbenrepublik in Pale auf. Ein anderes Beispiel: zwischen 1975 und 80 war das kambodschanische Rote Kreuz in den Händen der Roten Khmer. Die Rotkreuzgesellschaften in den ehemaligen kommunistischen Staaten waren durchs Band weg der verlängerte Arm der kommunistischen Partei.

Dass die Ziele der Föderation eher machtpolitisch als humanitär begründet sind, zeigt auch folgende Geschichte: als das IKRK sich 1990 um einen Beobachtersitz an der UNO bemühte, versuchte die Föderation diese Absicht zu torpedieren und empfahl den nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften ihren Einfluss bei den jeweiligen Regierungen geltend zu machen und ein zustimmendes UNO-Votum zu verhindern. Die Föderation wollte den Beobachtersitz für die Rotkreuzbewegung als Ganzes. Heute haben beide Organisationen je einen Beobachtersitz bei den Vereinigten Nationen. Etwas salopp ausgedrückt könnte man sagen, das IKRK fühlt sich durch die Föderation immer wieder kompromittiert. Die Föderation ihrerseits möchte, dass vom Glanz und Ansehen des IKRK auch etwas auf die eigene Organisation überspringt.

Mindestens auf dem Papier ist heute die Arbeitsteilung zwischen Föderation und IKRK klar: Die Föderation koordiniert die Arbeit der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften, sie und ihre Mitglieder helfen weltweit bei Katastrophen, gleichzeitig leistet man auch Entwicklungsarbeit. Demgegenüber interveniert das IKRK bei Kriegen und Konflikten. Diese Arbeitsteilung ist schon heute problematisch, denn es wird immer schwieriger, die Grenzen zwischen Katastrophen und bewaffneten Konflikten zu ziehen. In Zukunft dürfte dies noch schwieriger werden. So warnt etwa der renommierte amerikanische Journalist Robert D.Kaplan: Die Kriege im 21.Jahrhundert werden anders sein als heute. Stichworte dazu sind etwa: Kampf um knapper werdende Ressourcen, globale Katastrophen wie das Ansteigen des Meeresspiegels, bürgerkriegsähnliche Zustände in den verslumten Innenstädten. Robert D.Kaplan ist ein erfahrener Analytiker - er wies beispielsweise schon in den 80er Jahren auf das Pulverfass auf dem Balkan hin. Seine Rufe blieben nicht ungehört und Kaplan ist heute Mitglied einer informellen ´groupe de réflexion' des UNO Generalsekretärs Boutros Boutros-Ghali. Ein anderes Mitglied dieser Gruppe: IKRK Generaldirektor Peter Fuchs!

Mit den neuen Konflikten dürfte die Arbeitsteilung in der Rotkreuzbewegung auch weiterhin zur Diskussion stehen. Beim IKRK scheint man sich heute schon intensiv Gedanken über diese Problematik zu machen: "Die Bedeutung des Wassers in den bewaffneten Konflikten" hiess der Titel einer Tagung, die das IKRK im November 94 durchführte. Die Zukunft hat schon begonnen.


Anmerkung vom Dezember 1996: Der IKRK Generaldirektor wird auf den 1.1.97 von Paul Grossrieder abgelöst, der die angefangenen Reformen weiterführen und ausbauen will,


Dieser Text erschien in der Zeitschrift NZZ FOLIO vom Februar 1995.

 

 


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