Holocaust-Opfer in Rumänien

Die letzten 100 Meter

Eine Reportage von Dominik Landwehr

("Brückenbauer" Nr.29 vom 15.Juli 1997)


Die letzten 100 Meter
Das Joint Distribution Committee hilft seit 1918
Drei grosse Namen: Elie Wiesel, Paul Celan, Joseph Schmidt -
Roma werden heute noch verfolgt.
Holocaust-Opfer aus Rumänien im Gespräch mit Schweizer Schülern



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Martha Marmor ist 71jährig und wohnt in der rumänischen Provinzstadt Tirgu Mures. Sie empfängt uns zusammen mit ihrem vier Jahre jüngeren Bruder Ladislaus Grün. An ihrem linken Arm trägt die ehemalige Lehrerin eine Tätowierung. «Der Waffen-SS-Mann hat mir zuerst die Nummer B 419 eintätowiert. Dann strich er alles durch und schrieb neu B 20419.» Martha Marmor und ihr Bruder waren beide im Konzentrationslager Auschwitz.

Ohne zu stocken, erzählt die warmherzige Frau aus jener dunklen Zeit: Vater, Mutter und die beiden Kinder mussten im April 1944 von ihrer Heimatstadt Reghin bei Tirgu Mures ins Ghetto ausserhalb der Stadt. Nach wenigen Wochen wurde die ganze jüdische Bevölkerung nach Auschwitz deportiert.

Von der SS zurückgelassen

Dort fand wenige Tage später die berüchtigte Selektion durch den Nazi-Arzt Mengele statt. Er schickte die Mutter, die von den Folterungen im Ghetto gezeichnet war, auf die rechte Seite und damit in den Tod; dorthin gingen Alte, Kinder, Kranke. Dann fragte er nach dem Alter des Bruders, Ladislaus, der damals 14 war. Er sei 18jährig, antwortete der Vater an seiner Stelle und rettete ihm damit das Leben.

Wussten die drei, was mit jenen geschah, die Mengele auf die rechte Seite schickte? - «Man hat uns zwar von den Gaskammern und den Krematorien erzählt. Aber wir haben es nicht geglaubt», sagt Ladislaus Grün.

Im Winter 1944 erkrankte die damals 17jährige Martha Marmor. Sie verlor durch die Kälte zwei Zehen und wurde ins KZ-Lazarett verlegt. Die SS-Truppen liessen die junge Frau dort zurück, als sie im Januar 1945 vor den näherrückenden sowjetischen Truppen flüchteten. Hätte Martha Marmor mit den anderen Häftlingen das Lager verlassen müssen, so wäre sie wohl wie Tausende andere gestorben. Als Einheiten der Roten Armee die Kranken befreiten, wog Martha Marmor noch 28 Kilogramm.

Ladislaus Grün ist heute Sekretär der lokalen Sektion der Vereinigung der jüdischen Holocaust-Opfer Rumäniens: «Als 67jähriger bin ich einer der jüngsten», erklärt er.

Rund 600 Holocaust-Opfer leben heute noch im ganzen Land: «Hier in Tirgu Mures waren wir 1991 noch 128. Anfang Juni dieses Jahres zählten wir 63, und heute sind es nur noch 59.»

Im spartanisch eingerichteten Büro der jüdischen Gemeinde von Tirgu Mures sprechen wir mit Karl Sauber, dem Präsidenten der Gemeinde. Sauber sagt mit leiser Stimme: «Wir brauchen Hilfe für die letzten 100 Meter.» Er meint: Wer jetzt noch etwas für die Holocaust-Überlebenden tun will, muss sich beeilen.

Nicht nur materielle Hilfe

Dabei denkt Karl Sauber nicht nur an materielle Hilfe für die nicht wenigen verarmten Gemeindeglieder, sondern auch an kulturelle Projekte: So hat man zwar in Tirgu Mures mit der Renovation der Synagoge begonnen. Jetzt sind die Arbeiten ins Stocken geraten: Das Dach ist undicht, und für eine Sanierung fehlt das Geld. «Es wird in dieser Stadt wohl bald keine Juden mehr geben. Wir möchten aber trotzdem, dass die Synagoge als Denkmal erhalten bleibt», erklärt Sauber.

Viele Juden fühlen sich hier vergessen. «In Israel, in den USA und sogar in Südafrika hätte ich längst eine Entschädigung von der deutschen Regierung erhalten», hören wir immer wieder.

Nicht wenige der Holocaust-Überlebenden in Tirgu Mures leben weit unter dem Existenzminimum. Mit ihrer Rente - häufig nicht mehr als 50 Franken im Monat - können sie fast nichts kaufen. Sie sind auf die Nahrungsmittelpakete der jüdischen Gemeinde angewiesen (siehe unser Interview).

Grosse Armut

Die 75jährige Susanne Diamantstein, auch sie eine Überlebende des Vernichtungslagers Auschwitz, ist eine dieser unterstützungsbedürftigen Rentner in der Provinzstadt Tirgu Mures. Sie lebt in einer winzigen Wohnung: «Meine Rente reicht knapp fürs Essen. Kleider kann ich mir keine kaufen.» Eine grosse Belastung, vor allem im Winter, sind die Rechnungen für Heizung, Strom und Gas: Sie fressen bis zu zwei Dritteln ihrer armseligen Rente von 50 Franken auf.

Am meisten Angst hat die zierliche alte Frau davor, krank zu werden: «Nur die einfachste Grundversorgung ist kostenlos. Wirkungsvolle, westliche Medikamente müssen wir bar bezahlen.»

Die Provinzstadt Tirgu Mures liegt mitten in Rumänien, im Landesteil Siebenbürgen. In den Jahren 1940 bis 1944 gehörte die Stadt jedoch vorübergehend, zusammen mit ganz Nordsiebenbürgen, zu Ungarn. Nachdem die Deutschen im März 1944 in Ungarn einmarschiert waren, wurden alle 150000 Juden Nordsiebenbürgens nach Auschwitz deportiert. Die meisten fanden dort den Tod.

In Rumänien herrschte der faschistische Diktator Antonescu. Unter seiner Herrschaft kam es zu zahlreichen Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung, vor allem im Nordosten des Landes, in Bessarabien und der Bukowina. Antonescu liess die Juden dieser Landesteile 1941 nach Transnistrien in der heutigen Ukraine deportieren.

Der 76jährige Karl Margulis stammte aus Tschernowitz und lebt heute auch in Tirgu Mures. Zusammen mit seinen Eltern wurde auch er nach Transnistrien verschleppt: «Ganze Familien standen morgens nicht mehr auf, sie waren im Schlaf vor Entkräftung gestorben.»

Das Massaker von Bukarest

In den übrigen Gebieten des Landes, dem sogenannten Altrumänien, wurden die Juden weniger systematisch verfolgt. In Bukarest kam es aber 1940 zu einem schrecklichen Massaker: Mitglieder der berüchtigten Eisernen Garden - sie entsprachen der deutschen Waffen-SS - ermordeten 127 Juden. «Im städtischen Schlachthof fand man Leichen, die wie Tierkadaver an den Haken hingen», schreibt der Holocaust-Forscher Raul Hilberg. Insgesamt wurde auf dem Gebiet des heutigen Rumänien rund die Hälfte der ehemals 800000 Juden ermordet.

Zurück in die Gegenwart. Freitagabend: Das Thermometer zeigt in Bukarest 35 Grad, am Himmel braut sich ein Gewitter zusammen. In der Synagoge findet sich eine Handvoll Menschen zum Gottesdienst mit Rabbi Yehezkeil Mark aus Israel. Auch er ist ein gebürtiger Rumäne. Den wenigen Jugendlichen hier schenkt die Gemeinde besondere Aufmerksamkeit: Kara und Kobi Tav aus Israel - beide nicht älter als 25 - sind als Freiwillige für ein Jahr in Bukarest. Wir treffen sie beim Sabbatmahl am Freitagabend, wo sie mit dem Rabbiner und den Jungen essen und hebräische Lieder singen.

Starke Auswanderung

Seit dem Krieg sind rund 400000 Juden ausgewandert, die meisten nach Israel, viele in die USA. Zurück blieben die alten. Und auf ihre Bedürfnisse sind auch die sozialen Dienste der jüdischen Gemeinde ausgerichtet. Sie dürfen, zumal in den Staaten Mittel- und Osteuropas, seinesgleichen suchen. Nilu Aronovici, der diese Dienste leitet, führt uns frühmorgens zur Grossküche der Gemeinde. Davor stehen sechs Geländewagen zur Abfahrt bereit. Aus ihnen werden den ganzen Tag fertig gekochte Mahlzeiten und Medikamente an betagte Juden in Bukarest verteilt. Einige Schritte von der Grossküche entfernt befindet sich die Poliklinik, hier können Unterstützungsbedürftige auch Klei der beziehen.

Die Hilfsaktionen, zu 80 Prozent finanziert vom Joint Distribution Committee, bleiben nicht ohne Wirkung: «Die Lebenserwartung der Menschen unserer Gemeinde liegt rund sieben Jahre über dem landesüblichen Durchschnitt», sagt der Präsident der Vereinigung der jüdischen Gemeinden Rumäniens, Nicolaj Cajal.

Slumartiges Haus

Trotzdem, das Leben in der rumänischen Hauptstadt ist auch für jüdische Rentner schwer. Wir besuchen das Rentnerpaar Holzmann. Die beiden leben in einem slumartigen Haus in der Nähe des Flughafens. Zur Wohnung gehören eine winzige Küche und ein Schlafraum, in dem ausser einem Bett und dem Tisch nichts Platz findet. Von draussen dringt kein Licht in die Stube, stehen kann man in der Wohnung kaum. Das Ehepaar Holzmann stammt aus dem Nordosten des Landes und erlebte die Pogrome von Iasi. Karl Holzmann bricht in Tränen aus, sobald er zu erzählen beginnt. Es ist schwer, als Jude in Rumänien alt zu werden.

Dominik Landwehr


Juden in Osteuropa

Die Mehrheit der sechs Millionen Juden, die im Zweiten Weltkrieg ermordet wurden, stammte aus Osteuropa: drei Millionen Juden kamen allein aus Polen, aus der damaligen Sowjetunion eine Million, aus Ungarn 570000 und aus Rumänien 425000. Die Welt der Ostjuden mit dem «Schtetl» als Mittelpunkt des Lebens ist verschwunden. Die grösste Gruppe von Juden lebt heute in Russland. Hier die Zahlen im Überblick:

 

In den übrigen Ländern Osteuropas leben weniger als 4000 Juden. D.L.


Quellen: Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Serie Piper. Zirka 90 Franken.

Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Fischer Verlag. Zirka 60 Franken.


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updated last on July 25, 1997